Mädchen im Wald
Was die Ausgangsbeschränkungen in Familien bewirken kann

„Zurück in die Kindheit“ – Was die Ausgangsbeschränkungen in Familien bewirken kann

Die Studentenwohnheime sind leer, die Kinderzimmer zu Hause bei den Eltern wieder bezogen. Geschwister, die sich sonst nur noch an Wochenenden sehen, verbringen plötzlich Tag und Nacht miteinander. Es ist fast wie früher. Aber eben nur fast. Denn die Kinder von damals sind heute selbst erwachsen. Das sorgt für eine massiv veränderte Familiendynamik, da der Aspekt der Hierarchie in der Eltern-Kind-Beziehung wegzufallen scheint. 

Die Eltern sind nicht mehr für einen verantwortlich und die Kinder sind nicht auf die Betreuung von Mama und Papa angewiesen. Man begegnet sich auf Augenhöhe. Aufgrund der Ausgangsbeschränkungen war es im Frühjahr 2020 nicht möglich Freundinnen und Freunde zu treffen, stattdessen wurde Zeit mit der Schwester oder dem Bruder verbracht. Man fand Gemeinsamkeiten, die man schon längst vergessen hatte oder von denen man noch gar nichts wusste. Das bezieht sich nicht nur auf die Geschwister, sondern auch auf die eigenen Eltern. Und ja, natürlich geriet man öfter aneinander, wenn sich alle Familienmitglieder für einen längeren Zeitraum im selben Haus befinden, aber es entstanden auch schöne Momente. Hier ein Rückblick auf die Zeit der Ausgangsbeschränkungen.

Die schönen Seiten der Rückkehr

Momente wie ein gemeinsamer Filmeabend, ein gemeinsamer Spaziergang im Wald oder auch ein gemeinsames Gläschen Rotwein auf der Terrasse hat es schon länger nicht gegeben. Vielleicht sogar noch nie. Diese und ähnliche Dinge stehen mangels Alternativen wieder am Programm. Und in genau diesen Momenten fragt man sich, wieso es erst eine Pandemie gebraucht hat, um zu merken, dass man die gemeinsame Zeit durchaus nutzen und schätzen kann. Man wächst wieder nah zusammen. Es wird miteinander gesprochen, gekocht, gelacht, getrunken, und miteinander geweint.  Drei Studentinnen erzählen uns, wie sich Ausgangsbeschränkungen und Corona-Maßnahmen auf ihr Familienleben und -bewusstsein ausgewirkt haben. 

Vom Studentenwohnheim zurück ins Kinderzimmer

Kathrin, 20 Jahre alt, studiert Statistik an der Uni Wien. Vor fast zwei Jahren ist sie dafür zuhause aus- und in ein Studentenwohnheim in Wien eingezogen. Die Gründe für diesen Schritt waren einerseits die Zeitersparnis, schließlich fiel so die tägliche Zugfahrt aus dem Burgenland nach Wien weg, und andererseits brauchte sie zum Lernen für ihr Studium mehr Ruhe. Ruhe, die sie zuhause bei ihren Eltern und ihrer Schwester Melanie nicht hatte. Kurz nachdem im März alle Unis und Fachhochschulen „coronabedingt“ geschlossen wurden, entschied sich die Wahl-Wienerin zurück ins Burgenland zu kommen. „Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich zuhause bleiben werde. Ich hatte mit maximal zwei bis drei Wochen gerechnet und nahm dementsprechend auch eher wenig Kleidung mit.“ 

Mittlerweile lebt Kathrin aber bereits seit mehr als drei Monaten wieder in ihrem alten Kinderzimmer. Sie vermisst die Ruhe, die sie in Wien hatte. Aber sie ist auch froh, dass sie nun wieder viel mehr Zeit mit ihrer Schwester verbringt. 

Als Kinder verbrachten sie jede freie Minute miteinander, sie waren sich so ähnlich, viele hielten sie sogar für Zwillinge. Als Kathrin nach Wien gezogen ist, sah sie ihre Schwester nur noch alle paar Wochen und sie entfernten sich voneinander. Sie gibt auch zu, dass sie sich seit dem Wiedereinzug in ihr Kinderzimmer besser mit ihren Eltern versteht als zuvor. Während des Corona-Lockdowns verbrachten sie alle als Familie viele Abende auf der Terrasse und knüpften Verbindungen zueinander, die vorher nicht dagewesen zu sein schienen. Ob dieses enge Familienverhältnis auch nach Corona weiterbesteht, kann Kathrin zwar nicht sagen, aber dafür beschreibt sie das Verhältnis zu ihren Familienmitgliedern als „fast freundschaftlich“. „Auch wenn es zuhause schwierige Momente gibt, ich weiß, dass ich jederzeit zu meiner Schwester gehen kann. Mir ist klar geworden, dass wir beide sehr ähnlich denken. Meist müssen wir Sachen gar nicht aussprechen, denn die andere weiß schon, was gemeint ist.“ 

Studienalltag im „Full House“

Michelle (21) ist seit drei Jahren Studentin an der Fachhochschule Burgenland. Das entspannte Familienleben hinter sich zu lassen kam für Michelle nicht in Frage, vor allem, da sie nur wenige Kilometer von der Fachhochschule entfernt wohnt. Seither hat sich ihre Wohnsituation auch nicht verändert. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihren beiden jüngeren Schwestern lebt sie in einem Einfamilienhaus. „Ich schätze das Zusammenleben in der Großfamilie, ich verbringe gerne Zeit mit meinen Liebsten. Der Zusammenhalt wird in unserer Familie großgeschrieben“, erzählt Michelle. 

Challenge „Daham bleiben“

Seit es in Österreich Ausgangsbeschränkungen gibt, ist das gemeinsame Leben mit vielen Personen unter einem Dach eine kleine Herausforderung. Jeder braucht genügend Platz, um seine Tätigkeiten zu erledigen, sei es für Schule, Studium oder den Job. Obwohl es an Platz in Michelles Haus nicht mangelt, kommen sich die einzelnen Familienmitglieder öfters in die Quere. Fünf Personen, die ständig zuhause sind und alle gleichzeitig, jeder für sich und doch miteinander, Aufgaben erledigen müssen – das kann einfach nicht reibungslos funktionieren. Und doch – die gemeinsamen Momente als Familie möchte niemand von ihnen missen. Gemeinsame Spieleabende und Familienspaziergänge sind in letzter Zeit weit häufiger vorgekommen als vor Corona. Ob das in Zukunft auch der Fall sein wird, kann Michelle nicht genau sagen, aber sie würde es sich sehr wünschen.

„Natürlich unterstützen wir uns nach wie vor und verbringen auch bewusst Zeit zusammen. Wenn jeder seine Arbeit, Aufgaben und Hausaufgaben erledigt hat, essen wir gemeinsam, schauen fern oder spielen Brettspiele. Trotz mancher Komplikationen bekommen wir das einfach gut gemeinsam hin.

Michelle (21), Studentin

Soziale Isolation mit getrennt lebenden Eltern

Verena (22) studiert an der Fachhochschule Burgenland und lebt gemeinsam mit ihrem Partner in einer Wohnung nur einige Kilometer entfernt. Ihre Eltern leben zwar in der gleichen Ortschaft, jedoch seit mehr als einem Jahr getrennt. Auch ihre ältere Schwester lebt in einem eigenen Haushalt. Die gesplittete Familie verbringt jedoch gerne und häufig Zeit miteinander. Verena besucht „normalerweise“ mindestens einmal in der Woche ihre Eltern und alle zwei Wochen trifft sie ihre Schwester. Bei allen möglichen Anlässen versammelt sich die gesamte Familie, um gemeinsam Zeit zu verbringen. Durch die Vorgaben der Bundesregierung war es Verena nicht möglich ihre Eltern und ihre Schwester zu treffen. „Als ich von den Ausgangsbeschränkungen gehört habe, war mein erster Gedanke, dass ich meine Familie wohl für längere Zeit nicht besuchen kann.“ Natürlich hat sich Verena an die Beschränkungen gehalten, jedoch war es ihr wichtig die Einkäufe für ihre vorerkrankte Mutter zu erledigen. „Einmal die Woche habe ich die Einkäufe erledigt und sie direkt vor die Haustür meiner Mutter geliefert. Dann haben wir uns immer zugewunken und später gleich telefoniert.“ „Facetime“ wurde der neue treue Begleiter von Verena. 

Digitale Familientreffen

Da auch ihre ältere Schwester einen eigenständigen Haushalt führt, wurden oft Telefonkonferenzen gehalten. Zuerst mit Mama, dann mit Papa oder umgekehrt. Der Kontakt mit ihrer Familie ist bei Verena auf keinen Fall zu kurz gekommen, im Gegenteil. Das familiäre Zusammensein muss für Verena gar nicht unbedingt physisch sein. Man kann auch als voneinander entfernte Familie das Familienbewusstsein stärken und – trotz der Entfernung – näher zusammenrücken. „Natürlich hat mich diese Ausnahmesituation nicht begeistert, aber durch die Beschränkungen und das viele Zuhause Sein habe ich mehr Zeit mit meiner Familie verbracht als zuvor, zwar nur virtuell, aber trotzdem haben wir viele schöne Gespräche geführt.“ 

Rückkehr in die eigenen vier Wände

Mit dem schrittweisen Ende der Ausgangsbeschränkungen findet auch der Übergang in den bisher bekannten Alltag statt. Zurück zu den gewohnten Strukturen. Wobei das nicht ganz der Fall ist, denn Fachhochschulen und Unis bleiben vorerst ja noch etwas länger geschlossen. Aber irgendwann werden sich auch die Studentenwohnheime langsam wieder füllen, die Kinderzimmer werden wieder verlassen, Geschwister sehen sich wieder nur an den Wochenenden. Werden die gemeinsamen Stunden, die man in der Selbst-Isolation mit der Familie erlebt hat, dann nur noch eine Erinnerung an die bizarre Zeit der Corona-Pandemie sein? Vielleicht kommen einige Familien ja doch anders, gestärkt, aus der Selbst-Isolation heraus. Vielleicht verändert sich unsere gegenseitige Wahrnehmung und unser Umgang mit unseren Schwestern, Brüdern, Müttern und Vätern ist von nun an bewusster.