Ein Mann ist überfordert
Hochstaplersyndrom

Denn ihr wisst nicht, was ihr tut – Das Hochstaplersyndrom und was dagegen hilft 

Stellt euch mal vor: Ihr fahrt morgens in die Arbeit, grüßt eure Kolleg:innen auf dem Gang, arbeitet ein paar E-Mails ab, nehmt an Konferenzen teil und tauscht euch in der Mittagspause über aktuelle Projekte aus. Dabei wisst ihr insgeheim – ihr dürftet eigentlich gar nicht hier sein. Denn in Wirklichkeit tut ihr nur so, als würdet ihr euch auskennen. Ihr wisst nicht, wovon ihr sprecht, wenn ihr euren Kolleg:innen mit Rat und Tat beiseite steht. Ihr könnt bei den Projekten gar nicht mitreden. Ihr habt euch bislang im Job nur durchgeschummelt. Ihr seid überhaupt nicht dafür qualifiziert, eure Arbeit auszuüben. Ihr seid Hochstapler:innen. 

Ein Mann ist überfordert

Das Hochstaplersyndrom

Was erstmal nach einem Straftatbestand klingt, ist für viele knallharte Realität. Jedoch handelt es sich hier nicht um einen Betrugsfall, denn es ist das eigene Selbstwertgefühl, das einem einen Streich spielt. Das sogenannte Hochstaplersyndrom (im Original: “imposter syndrome”) sorgt dafür, dass Betroffene ihre eigene Kompetenz unterschätzen. Sie halten sich für Eindringlinge im Berufsleben, denken, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie auffliegen. Bis allen auffällt, dass sie eigentlich gar nichts wissen und auch nichts können. Personen, die unter dem Hochstaplersyndrom leiden, halten sich selbst für unfähig und fühlen sich ihren Arbeitskolleg:innen unterlegen. Und dabei macht dieses Phänomen vor niemandem halt. Die Arbeitskollegin, die es schafft, Karriere und Familie unter einen Hut zu kriegen, die immer perfekt frisierte Haare hat und zudem noch täglich ein gesundes Mittagessen dabei hat – möglicherweise leidet sie unter dem Hochstaplersyndrom. Der Professor, der bereits zahlreiche Studien veröffentlicht hat und der mit seinen Vorträgen hunderte von Student:innen begeistert – auch er könnte unter dem Imposter Syndrom leiden. Und auch euer:e Chef:in hält sich selbst vielleicht für unterqualifiziert. Denn laut Expert:innen ist es sogar so, dass die Wahrscheinlichkeit unter dem Imposter Syndrom zu leiden, in höheren beruflichen Positionen steigt. Anstatt sich durch den Erfolg also bestätigt zu fühlen, tendieren Betroffene dazu, sich umso mehr selbst anzuzweifeln, je weiter sie auf der Karriereleiter nach oben klettern. Laut dem Standard sind diese Selbstzweifel aber nicht das Problem einiger weniger, hochkritischer Selbstoptimierer:innen – das Syndrom betrifft einen Großteil der Bevölkerung. Schätzungen zufolge, haben 70 Prozent der Menschen bereits einmal gedacht, Hochstapler:innen zu sein. 

Doch woher kommt dieses Syndrom überhaupt? 

Zunächst einmal: das Hochstaplersyndrom ist keine psychische Krankheit. Jedoch können die wiederkehrenden Selbstzweifel eine Erkrankung durchaus bestärken. Denn das Syndrom kann Stress verursachen und die negativen Gefühle können in einer Abwärtsspirale münden. Das wiederum kann in Burnout und Depressionen enden, wie die beiden Psychologinnen Pauline Clance und Suzanne Imes bereits 1978 festgestellt haben. In ihrer Studie benennen die beiden das Phänomen erstmals als Imposter Syndrom. Sie beschreiben die Betroffenen als ambitionierte und hartarbeitende Personen, die das Gefühl haben, sie seien Betrüger:innen. Die „Hochstapler:innen“ glauben, alle in ihrem Umfeld hinters Licht geführt zu haben, indem sie ihre Mitmenschen fälschlicherweise davon überzeugt hätten, sie wären talentiert oder fähig. Das funktioniert so, dass sie ihre eigene Leistung kleinreden. Betroffene schreiben ihre Erfolge stets äußeren Umständen zu. Sie hätten zum Beispiel Glück bei der Bewerbung gehabt oder ihre Stelle nur durch Beziehungen bekommen. Die Financial Times findet im Interview mit Dr. Clance heraus, dass selbst unumstößliche Evidenz für den Erfolg der Betroffenen nichts an deren Gefühlen sich selbst gegenüber ändert. Mag. Dr. Marlene Kollmayer der Uni Wien forscht ebenfalls an dem Phänomen. Sie hat mehrere Frauen befragt, die unter dem Hochstaplersyndrom leiden und berichtet News.at ihre Ergebnisse: „Viele der Frauen waren leicht oder sogar schwer depressiv und überlegten, aufgrund ihrer Ängste und Unzulänglichkeitsgefühle ihre Karriere zu beenden.“ Hier wird klar, dass es sich bei dem Phänomen nicht um ein unbedeutendes Problemchen unserer Leistungsgesellschaft handelt, denn das Syndrom kann starke Auswirkungen auf die Betroffenen haben. Es beeinträchtigt deren Psyche, ihre Zufriedenheit und als Resultat die Arbeitsleistung. Denn wie sollen wir zu einem Projekt beitragen, wenn wir uns gar nicht trauen, etwas zu sagen?  

Doch keine Sorge. Es gibt durchaus Möglichkeiten gegen die Selbstzweifel anzukämpfen. 

Was könnt ihr gegen das Hochstaplersyndrom unternehmen?  

Zunächst einmal ist es wichtig, sich einzugestehen, dass Jede:r selbst vom Hochstaplersyndrom betroffen sein kann. 

  • Ihr bringt euch bei wichtigen Entscheidungen lieber nicht ein, aus Angst die falsche Wahl zu treffen. 
  • Ihr traut euch anspruchsvolle Aufgaben gar nicht erst zu.  
  • Wenn etwas gut läuft, denkt ihr, Glück gehabt zu haben, oder euren Erfolg dem Zufall zu verdanken.  
  • Ihr habt das Lob eurer Vorgesetzten nicht verdient.  
  • Ihr seid nicht gut genug.  

Konntet ihr euch in diesen Aussagen wiedererkennen? Dann leidet ihr möglicherweise unter dem Imposter Syndrom. Doch das müsst ihr nicht hinnehmen! Um sich gegen die negativen Gedanken zu wehren, hilft es sehr, sich aktiv bewusst zu werden, dass es dieses Phänomen gibt und dass die Selbstzweifel nicht auf Tatsachen beruhen. Erinnert euch an all die Dinge, die ihr bereits gemeistert habt, denn sie sind der Beweis für eure Kompetenz. Versucht euch auch mal selbst zu loben und sogar kleine Erfolge zu feiern. Und selbst, wenn ihr wirklich Glück hattet, was soll’s? Ihr wärt nicht dort, wo ihr heute seid, wenn ihr nicht mittlerweile in eure Rolle gewachsen wärt. Denn schließlich wächst Jede:r an seinen Aufgaben. Außerdem kann es hilfreich sein, zu versuchen sich selbst von der Außenperspektive zu betrachten. Vergleicht euch aktiv mit Kolleg:innen – aber seid ehrlich, denn oft sind wir mit uns selbst strenger als mit anderen. Gesteht euch ein, dass auch andere manchmal Glück haben, denn das ist normal und gehört dazu. Und noch viel wichtiger, es sei euch gegönnt! Ihr solltet euch außerdem vor Augen führen, dass ihr nicht alleine seid. Denkt nur an den Anfang dieses Artikels zurück: rund 70 Prozent der Bevölkerung kennen diese Gedanken. Und um eure Selbstzweifel weiter in Relation zu setzen, folgen nun einige berühmte Personen, bei denen ihr mit Sicherheit nicht damit gerechnet hättet, dass auch sie mit dem Hochstaplersyndrom Erfahrung haben. 

Personen im Team an einem Tisch

Wenn ihre Namen genannt werden, denkt man an Talent, Leistung und Ruhm. Sicher würde jedoch niemand ihren Erfolg absprechen. Doch sie selbst tun es zuweilen. Diese berühmten Personen geben an, an dem Hochstaplersyndrom zu leiden, oder bereits einmal Gedanken in diese Richtung gehabt zu haben: 

  • Michelle Obama, erfolgreiche Rechtsanwältin und ehemalige US-amerikanische First Lady 
  • Sheryl Sandberg, Vorstand des Millionenkonzerns Facebook  
  • Daniel Kwan, Co-Regisseur des Oscar gekrönten Kinofilms „Everything Everywhere All at Once“ 
  • Tom Hanks, US-Schauspieler und zweifacher Oscar-Preisträger 
  • Lady Gaga, US-amerikanische Sängerin, Songwriterin und Schauspielerin  
  • Howard Schulz, Geschäftsführer und Gründer von Starbucks 

Außerdem auch Stars wie David Bowie, Natalie Portman, Maisie Williams‍, Tina Fey und viele, viele weitere.  

Die britische Schauspielerin Emma Watson berichtet Folgendes über ihren Selbstzweifel: “When I receive recognition for my acting, I feel incredibly uncomfortable. I tend to turn in on myself. I feel like an imposter.” (“Wenn ich Anerkennung für meine schauspielerische Leistung erhalte, fühle ich mich unglaublich unwohl. Ich neige dazu, mich selbst zu verleugnen. Ich fühle mich wie eine Hochstaplerin.”) 

Wer von euch hätte gedacht, dass es der erfolgreichen und weltberühmten Emma Watson so schwerfällt, ihre eigenen Leistungen anzuerkennen? Und auch wenn man die anderen Namen auf der Liste liest, wird deutlich, dass sich das Phänomen vor niemandem haltmacht und dass die Zweifel ganz normal sind. Uns dessen bewusst zu werden, kann jede:r Einzelnen von uns dabei helfen, die negativen Gefühle zu vermindern. Denn genauso wenig, wie sich eine Michelle Obama kleinreden muss, solltet ihr es.