Der globale Süden in den Medien: Who Cares?

Der globale Süden in den Medien: Who Cares? 

Über den blinden Fleck in der Medienberichterstattung 

Die re:publica ist eine der wichtigsten Konferenzen zur digitalen Gesellschaft. Sie soll insbesondere denjenigen eine Bühne bieten, die sich beruflich für Menschen einsetzen, die sonst wenig bis gar kein Gehör finden. Dieses Motto nehmen sich auch Dr. Lipp und Dr. Ludescher mit ihrem Vortrag „Der globale Süden in den Medien. Who cares?“ zu Herzen. SOFA hat den Vortrag am 27.05.2024 besucht, der sich der Vernachlässigung des globalen Südens in unserer Medienkultur widmet. Der Vortrag gehört zum Themenfeld Medien & Öffentlichkeit auf der diesjährigen re:publica und soll Journalist:innen und Medienschaffenden den Spiegel vorhalten – denn sie übersehen den Großteil unserer Bevölkerung. 

Der Vortrag beleuchtet die Darstellung des globalen Südens in den deutschen Medien und zeigt ein riesiges Problem auf: unseren blinden Fleck. Denn trotz der globalen Vernetzung und der Vielfalt an Informationen, die uns heute zur Verfügung stehen, wird der Großteil der Berichterstattung von westlichen Perspektiven dominiert. Dabei leben 85 Prozent der Weltbevölkerung im globalen Süden. Wie kann es also sein, dass diesem großen Anteil unserer Mitmenschen im medialen Diskurs kaum Bedeutung beigemessen wird? Mit dieser Frage beschäftigen sich Dr. Thorolf Lipp und Dr. Ladislaus Ludescher in ihrem Vortrag. Sie nennen außerdem mögliche Lösungsansätze – damit unsere Medienwelt in Zukunft diverser und vor allem repräsentativer wird.

Who cares? 

Dr. Thorolf Lipp, Mitglied im geschäftsführenden Vorstand und Co-Sprecher der Sektion Medienzukunft bei der Deutschen Akademie für Fernsehen (DAFF), ist einer der Hauptredner. Begleitet wird Dr. Lipp vom Kulturwissenschaftler Dr. Ladislaus Ludescher von der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihr Appell an die Zuhörenden ist: Who cares? – We should care! („Wen kümmert es? Uns sollte es kümmern!“) 

Dr. Ludescher beschäftigt sich bereits seit Jahren intensiv mit der Darstellung des globalen Südens in den deutschen Medien. Seine Langzeitstudie „Vergessene Welten und blinde Flecken“ analysierte rund 6.200 Sendungen der „20 Uhr-Tagesschau“ sowie Berichte im „Deutschlandfunk“ und anderen einflussreichen Medienformaten. Die Ergebnisse seiner Forschung zeigen eine alarmierende Konzentration der Berichterstattung auf den Westen, während der globale Süden in den deutschen Medien kaum Beachtung findet. Damit richten die Speaker ihre Aufmerksamkeit auf ein oft übersehenes Problem: die einseitige mediale Darstellung. Denn die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die einen Auftrag zur umfassenden Berichterstattung haben, widmen dem globalen Süden nur einen Bruchteil ihrer Ressourcen. Dies steht im Widerspruch zu ihrem Bildungsauftrag und verstärkt globale Ungleichheiten. Wie kann es sein, dass die südliche Hälfte unseres Planeten medial komplett unterrepräsentiert ist? 

Die Vernachlässigung des Globalen Südens in deutschen Medien 

Der globale Süden, Heimat von 85 Prozent der Weltbevölkerung, ist in den deutschen Medien kaum ein Thema. Dies führt zu einer gravierenden Lücke in der Berichterstattung. Obwohl der öffentlich-rechtliche Rundfunk beide Welten näher zusammenbringen sollte, bleibt der globale Süden thematisch oft ausgeblendet. Ein Grund dafür ist die Einteilung in „wir“ und „die Anderen“. Die geografische Distanz verstärkt diese Kluft, ebenso wie kulturelle und geschichtliche Differenzen. Dr. Thorolf Lipp betont jedoch, dass sich der globale Süden heute trotz der Entfernung „angesichts von Flucht, Vertreibung, Migration etc. längst genauso in der Nachbarschaft befindet“. Denn es ist nun mal so, dass der globale Süden politisch, kulturell, wirtschaftlich und militärisch die letzten Jahre an Bedeutung gewonnen hat. Trotzdem sind diese Regionen in den deutschen Medien selten Bestandteil der Berichterstattung. Um die Auswirkung auf unsere Bildung und das Meinungsklima aufzuzeigen, zitiert Dr. Lipp den Soziologen Niklas Luhmann, der 1995 treffend formulierte, dass wir alles, was wir über die Welt wissen, über die Massenmedien erfahren. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass wir über rund 85 Prozent unserer Weltbevölkerung kaum etwas wissen. 

Das größte lösbare Problem 

Dr. Ladislaus Ludescher analysierte in einer Reihe quantitativer Studien die Berichterstattung unserer Medien. Über 17 Jahre hinweg, wertet er etwa 6.200 Sendungen der Tagesschau und weiterer deutscher sowie einiger schweizer oder österreichischer Medien aus. Das Ergebnis: Der Themenfokus aller untersuchter Medien liegt stark auf dem globalen Norden. Eine Karte, die Ludescher in seinem Vortrag präsentiert, zeigt die ungleiche Verteilung auf einen Blick. Die Größe der Kugeln gibt an, in wie vielen Berichten ein jeweiliges Land erwähnt wurde. Die großen Kugeln befinden sich vor allem im globalen Norden, während Regionen wie Lateinamerika, Subsahara-Afrika und Südasien kaum abgebildet sind. Aktuelle Zahlen aus dem Jahr 2023 verdeutlichen dieses Ungleichgewicht: über den Ukraine-Russland-Konflikt gab es mehr als4 00 Berichte, während Nigeria, das bevölkerungsreichste Land Afrikas mit 250 Millionen Einwohner:innen, gerade einmal in acht Berichten behandelt wird. 

Die beiden Vortragenden verdeutlichen anhand zweier Beispiele, was diese Ergebnisse konkret für unsere Medienlandschaft bedeuten. Einmal der tödlichste Krieg des 21. Jahrhunderts und dann die schlimmste humanitäre Krise weltweit. „Da werden Sie wahrscheinlich an die Ukraine denken“ prophezeit Dr. Ludescher, „aber beides ist nicht auf die Ukraine bezogen, tatsächlich.“ Die Rede ist von dem Krieg in Tigray in Äthiopien – ein Bürgerkrieg, der Schätzungen zufolge 600.000 Tote forderte. Die schlimmste humanitäre Krise weltweit spielte sich im Jemen ab. Bis zu 400.000 Menschen sind hier bislang gestorben. Das sind also die beiden Konflikte, die eigentlich im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen sollten, so Dr. Ludescher.

Wie die Grafik aber deutlich zeigt, finden beide Ereignisse medial kaum Gehör. Stattdessen wird zahlreich über den Ukrainekrieg, die Energiefrage und die Pandemie berichtet.

Doch es wird noch erschreckender: die Ohrfeige von Will Smith kommt in der Schweizer Tagesschau häufiger in den Berichten vor als der Krieg in Tigray und der Krieg im Jemen zusammengerechnet.

Ein weiteres Beispiel zeigt, wie gravierend die geringe Aufmerksamkeit, die der globale Norden dem globalen Süden schenkt, ist: Gerade einmal 12 Milliarden Dollar werden zur Bekämpfung des Welthungers ausgegeben – dahingegen werden 1.984 Milliarden Dollar für das Militär bereitgestellt. Dr. Ludescher kommt zu der Erkenntnis: „Es fehlt an politischen Willen, weil eben auch die Aufmerksamkeit nicht da ist.“ Und hier kommen die Massenmedien ins Spiel, denn sie gestalten den Diskurs mit. Somit ist es essenziell, dass Medienschaffende diesen globalen Krisen genügend Aufmerksamkeit widmen, um auch Politiker:innen den Hilfebedarf aufzuzeigen. Ein Grund für die einseitige Perspektive ist das Korrespondent:innen Netzwerk, welches sehr ungleich verteilt ist. In Nairobi, der Hauptstadt Kenias, sind zwei Korrespondent:innen der ARD (Erstes Deutsches Fernsehen) für 38 Länder, mit 870 Millionen Einwohner:innen verantwortlich. Da ist es kaum verwunderlich, dass der globale Süden nicht adäquat abgebildet werden kann. 

Doch es gibt Grund zur Hoffnung. Denn die Vernachlässigung der Menschen im globalen Süden ist erschütternd, doch es handelt sich dabei auch um „das größte lösbare Problem der Welt“. Es tatsächlich auch zu lösen, steht noch aus.  

Denn die Problematik wird seit Jahren konsequent vernachlässigt. Die Massenmedien haben einen enormen Einfluss darauf, was wir als wichtig erachten. Deshalb ist es unsere Aufgabe als Journalist*innen, ein repräsentatives Bild der Welt zu vermitteln und das Ungleichgewicht in der Berichterstattung zu beheben.  

Die Lösung des Problems? 

Dr. Thorolf Lipp ist es ein Anliegen, nicht nur auf das Problem hinzuweisen, sondern auch konkrete Lösungsansätze zu bieten. Zunächst einmal befasst sich die Studie mit öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendern. Doch es gibt auch Reportageangebote, die Themen des globalen Südens behandeln und darüber aufklären. Auch Spielfilme oder Podcasts widmen sich teilweise dem unterrepräsentierten Süden und können so die Lücke zumindest verkleinern. Und auch Vorträge wie dieser auf der re:publica tragen zu erhöhter Aufmerksamkeit auf das Problem bei. 

Dr. Thorolf Lipp erläutert mögliche Lösungsansätze anhand dreier Horizonte, die unterschiedliche Ebenen der Reform öffentlich-rechtlicher Medien umfassen: kleinere Veränderungen innerhalb des bestehenden Systems, weitreichende Umstrukturierungen und radikale Neuentwicklungen. 

Horizont 1

Auf der ersten Ebene betont Dr. Lipp, dass bereits kleine Anpassungen eine große Wirkung haben können. Ein erster Schritt wäre, die Rundfunkräte dazu zu bewegen, das Thema der unzureichenden Berichterstattung über den globalen Süden auf die Agenda zu setzen. Diese institutionelle Sensibilisierung könnte dazu führen, dass Ressourcen besser verteilt und thematische Schwerpunkte neu gesetzt werden. 

Ein weiterer Ansatz in diesem Rahmen ist die Spezialisierung der Berufsbilder im Auslandsjournalismus. Durch gezielte Fortbildungen und Spezialisierungen könnten Journalist:innen besser auf die komplexen Themen des globalen Südens vorbereitet werden, was zu einer fundierteren und umfassenderen Berichterstattung führen würde. 

Horizont 2

Wenn klar wird, dass „business as usual“ nicht mehr funktioniert, sind umfassendere Veränderungen notwendig. Hierzu gehört die finanzielle Stärkung des Informationsbereichs durch politische Vorgaben im Medienstaatsvertrag. Ein Ausbau des Korrespondent:innen Netzes, besonders in unterrepräsentierten Regionen, könnte die Berichterstattung deutlich verbessern. Politische Maßnahmen würden sicherstellen, dass mehr Ressourcen für die Berichterstattung über den globalen Süden bereitgestellt werden. 

Darüber hinaus könnten durch die Reform des Korrespondent:innen Netzes Synergien zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz geschaffen werden. Eine länderübergreifende Kooperation würde nicht nur die Effizienz steigern, sondern auch den Austausch von Informationen und Perspektiven fördern. 

Horizont 3

Der dritte Horizont umfasst radikale Neuentwicklungen, die ein komplett neues Mediensystem erfordern. Ein zentraler Punkt ist hierbei die stärkere Einbeziehung von Medienschaffenden aus den Herkunftsländern. Anstatt nur über den globalen Süden zu berichten, sollten Einheimische die Möglichkeit bekommen, ihre Geschichten selbst zu erzählen.  

Ein weiterer wichtiger Ansatz wäre es, einen Beauftragten für die Auslandsberichterstattung einzustellen, der jährlich einen Transparenzbericht veröffentlicht. Dieser Transparenzbericht würde dann darüber Auskunft geben, wie die Einnahmen der Anstalten zur internationalen Berichterstattung verwendet werden. Drüber hinaus bedarf es der Ausrichtung und Finanzierung von Fachdiskursen, die sich intensiv mit den Herausforderungen des globalen Südens auseinandersetzen.  

Dr. Lipp betont, dass es unsere Aufgabe als Journalist:innen ist, ein repräsentatives Bild unserer Welt zu vermitteln und das bestehende Ungleichgewicht in der Berichterstattung zu beheben. Nur durch eine konsequente Umsetzung dieser Lösungsansätze können die Medien ihrer Verantwortung gerecht werden und zu einer gerechteren und umfassenderen Darstellung der globalen Realität beitragen. 

Und wer weiß, vielleicht hat schon dieser Vortrag auf der re:publica 2024 die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt erreicht und wir können uns auf eine zukünftig diversere und ausgewogenere Medienberichterstattung freuen. 

Bis dahin lest auch gerne unseren ersten Artikel über die re:publica zum Vortrag „Wir haben KI zum Abi geschickt“ und bleibt auch die nächsten Tage gespannt, wenn SOFA euch spannende Einblicke in eine der wichtigsten Konferenzen der digitalen Gesellschaft bietet.